Die Abstinenzfrage taucht normalerweise unmittelbar auf, wenn es eine Alkohol-MPU oder Drogen-MPU geht. Leider kursieren darüber viele missverständliche Informationen und eine Menge Halbwissen. Und die korrekten Antworten sind auch nicht ganz simpel. Denn die erste Antwort lautet: Es kommt immer auf den Einzelfall an. Deswegen ist aus unserer Sicht der sinnvollste Weg, eine Beratung bei einem kompetenten Verkehrstherapeuten in Anspruch zu nehmen. Ein persönliches Gespräch kann am besten alle wichtigen Punkte für eine eventuelle Abstinenzentscheidung abklären und bewerten.
Aber wir wollen uns hier nicht vor der Antwort drücken und versuchen in diesem Blogbeitrag, das komplizierte Thema zu entwirren.
Wissenschaftliche Grundlage für die Abstinenzfrage: Die MPU- Beurteilungskriterien
Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass die Beurteilung jedes Einzelfalls im Rahmen der MPU nach wissenschaftlichen Grundlagen erfolgen muss. Zu den Standardwerken für die Gutachter zählen die Begutachtungsleitlinien und die Beurteilungskriterien, die regelmäßig aktualisiert werden. Die MPU- Beurteilungskriterien arbeiten mit sogenannten Hypothesen, d. h. mit wissenschaftlich begründbaren Annahmen. Die Aufgabe der Gutachter im Rahmen der MPU ist es, herauszufinden, wie der jeweilige Einzelfall anhand dieser Hypothesen einzuordnen ist.
Die A-Hypothesen bei Alkoholauffälligkeit im Straßenverkehr
Hypothese A 1
Es liegt Alkoholabhängigkeit vor. Eine Entwöhnungstherapie oder eine vergleichbare, in der Regel suchttherapeutisch unterstützte Problembewältigung hat zu einer stabilen Alkoholabstinenz geführt.
Hypothese A 2
Der Klient ist nicht dauerhaft in der Lage, mit Alkohol kontrolliert umzugehen. Er verzichtet deshalb konsequent, zeitlich unbefristet und stabil auf den Konsum von Alkohol.
Hypothese A 3
Es lag eine Alkoholgefährdung vor, die sich in gesteigerter Alkoholgewöhnung, unkontrollierten Trinkepisoden oder ausgeprägtem Entlastungstrinken äußerte. Der Klient hat aufgrund eines angemessenen Problembewusstseins sein Alkoholtrinkverhalten ausreichend verändert, sodass von einem dauerhaft kontrollierten Alkoholkonsum ausgegangen werden kann.
Hypothese A 4
Beim Klienten besteht keine unkontrollierte Kopplung bestimmter Trinkanlässe mit dem Führen eines Fahrzeugs (mehr).
Hypothese A 5
Der Klient weist im Zusammenhang mit dem früheren Alkoholmissbrauch keine die Fahreignung ausschließenden medizinischen Beeinträchtigungen auf.
Hypothese A 6
Beim Klienten bestehen keine verkehrsrelevanten Beeinträchtigungen der geistigen und/oder psychisch-funktionalen Voraussetzungen.
Hypothese A 7
Die festgestellten Defizite des Klienten sind durch einen Kurs zur Wiederherstellung der Fahreignung nach § 70 FeV für alkoholauffällige Kraftfahrer genügend beeinflussbar.
Die D-Hypothesen bei Drogenauffälligkeit im Straßenverkehr
Hypothese D 1
Es liegt eine Drogenabhängigkeit vor. Eine Entwöhnungstherapie oder eine vergleichbare, in der Regel suchttherapeutisch unterstützte Problembewältigung hat zu einer stabilen Drogenabstinenz geführt.
Hypothese D 2
Es liegt eine fortgeschrittene Drogenproblematik vor, die sich im missbräuchlichen Konsum von Suchtstoffen, in einem polyvalenten Konsummuster oder auch im Konsum hoch suchtpotenter Drogen gezeigt hat. Sie wurde problemangemessen aufgearbeitet und Drogenabstinenz wird ausreichend lange und stabil eingehalten.
Hypothese D 3
Es liegt eine Drogengefährdung ohne Anzeichen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik vor. Ein ausreichend nachvollziehbarer Einsichtsprozess hat zu einem dauerhaften Drogenverzicht geführt.
Hypothese D 4
Es liegt ausschließlich ein gelegentlicher Cannabiskonsum vor. Eine Verkehrsteilnahme unter Drogeneinfluss kann auch bei ggf. fortbestehendem Konsum zuverlässig vermieden werden.
Hypothese D 5
Es liegen im Zusammenhang mit früherem Drogenkonsum keine organischen, psychiatrischen und/oder Anpassungsstörungen vor, die die Fahreignung ausschließen.
Hypothese D 6
Es bestehen nach früherem Drogenkonsum keine verkehrsrelevanten Beeinträchtigungen der geistigen und/oder psychisch-funktionalen Voraussetzungen.
Hypothese D 7
Die festgestellten Defizite des Klienten sind durch einen Kurs zur Wiederherstellung der Fahreignung nach § 70 FeV für drogenauffällige Kraftfahrer genügend beeinflussbar.
Was haben die Hypothesen mit meiner Abstinenz zu tun?
Bei bestimmten Hypothesen spricht die Fachwissenschaft von sogenannten abstinenzpflichtigen Thematiken. Bei den Alkoholhypothesen fallen darunter insbesondere die Hypothesen A 1 und A 2, also eine Alkoholabhängigkeit im klinischen Sinne oder ein schädlicher Gebrauch von Alkohol. Sollte dein Alkoholkonsum sich in diesem Bereich bewegt haben, ist aus wissenschaftlicher Sicht und auch aus der Erfahrung vieler Betroffener der beste Weg, dass du dich für einen konsequenten und dauerhaften Alkoholverzicht entscheidest. Die Gutachter erwarten in diesem Fall einen ausreichend langen Abstinenzbeleg (nach den aktuellen CTU-Kriterien) von dir. Bei der A 1 (Alkoholabhängigkeit) wird der Prozess der Abstinenzentscheidung und Stabilisierung in der Regel suchttherapeutisch und verkehrstherapeutisch begleitet, bei der A 2 (Schädlicher Gebrauch) reicht in der Regel eine begleitende verkehrstherapeutische Maßnahme aus.
Ein Fall, der mit der Hypothese A 3 als Alkoholgefährdung beschrieben werden kann, lässt aus Sicht der MPU-Beurteilungskriterien auch das sogenannte Kontrollierte Trinken zu. Darunter verstehen wir einen Entwicklungsprozess von einer Phase des übermäßigen (unkontrollierten) Alkoholkonsums hin zu einem (kontrollierten) moderaten Konsum. Bei einer solchen Fallkonstellation ist eine positive Alkohol-MPU also auch ohne Abstinenzbelege möglich, gern gesehen wird aber zum Beispiel eine dreimonatige Haaranalyse zum Beleg des Kontrollierten Trinkens. In der Regel wird der Veränderungsprozess im Trinkverhalten verkehrstherapeutisch unterstützt.
Bei den Drogenauffälligkeiten (Drogen nach BTM-Gesetz) wird grundsätzlich Abstinenz erwartet, der Ausprägungsgrad (D 1, D 2, D 3, …) hat hier lediglich Auswirkungen auf die erforderliche Dauer des Abstinenzzeitraums. Auch hier kommt es auf den Einzelfall an; vereinfachend kann jedoch gesagt werden, dass die Hypothese D 1 und D 2 in der Regel 15 Monate Abstinenzbelege erfordern, im D 3- Fall können auch 6 Monate ausreichend sein.
Wer entscheidet denn nun über meine Abstinenz?
Kurz gesagt: Du selbst.
Damit du ein positives Gutachten erzielen kannst, wird von dir erwartet, dass du deine eigenen Konsumgewohnheiten gründlich reflektierst. Dabei sollst du zu einer tragfähigen Entscheidung kommen, wie du diese zum Positiven verändern kannst.
Bei Drogenkonsum wird das voraussichtlich zu einer Abstinenzentscheidung führen. Lediglich Cannabis kann hier eine Ausnahme darstellen. Seit der Teil-Legalisierung von Cannabis durch den Gesetzgeber ist theoretisch so etwas wie Kontrolliertes Kiffen (analog zum Kontrollierten Trinken) denkbar. Wie das in der Praxis umzusetzen ist, damit eine verantwortungsvolle und legale Teilnahme als Kraftfahrer im Straßenverkehr möglich ist, steht auf einem anderen Blatt. In den meisten Fällen wird auch bei Cannabis die Abstinenzentscheidung der beste Weg sein.
Bei Alkohol-Fragestellungen sollte fallangemessen entschieden werden, ob der sinnvollste Weg eine Alkoholabstinenz oder das Kontrollierte Trinken ist. Die Entscheidung sollte auf einer tiefgründigen Reflektion des früheren Konsumverhaltens beruhen und für die Gutachter nachvollziehbar sein.
Eine kompetente verkehrstherapeutische Begleitung hilft dir, die für dich richtige Entscheidung zu treffen.
Entscheiden denn nicht die MPU-Gutachter über das Thema Abstinenz?
In gewisser Weise nein, in gewisser Weise ja.
Da die Abstinenzbelege im Vorfeld der MPU erbracht werden müssen und die entsprechenden Bescheinigungen am MPU-Tag bereits vorgelegt werden, ergibt es keinen Sinn, diese Frage erst während der MPU zu stellen. Die MPU-Gutachter entscheiden nur insofern über die Frage, als dass sie in jedem Einzelfall prüfen, ob die vorgetragenen Argumente und vorgelegten Nachweise (entsprechend der Hypothese) ausreichend und nachvollziehbar sind.
Außerhalb der MPU dürfen die Gutachter aufgrund ihrer Verpflichtung zur Neutralität jedoch nicht beraten. Eine Entscheidung, ob Abstinenzbelege erbracht werden sollten, treffen die Gutachter also allenfalls in einem negativen Gutachten. Darin findet sich oftmals der Hinweis, dass die Belege nicht ausreichend sind und manchmal auch konkrete Empfehlungen, welche Nachweise für den nächsten MPU-Versuch erbracht werden sollten, damit die MPU aussichtsreich ist.
Wer eine negative MPU vermeiden möchte, klärt also sinnvollerweise im Vorfeld vor der MPU, welches der richtige Weg im jeweiligen Einzelfall ist. Empfehlenswert ist dabei die fachliche Expertise eines Verkehrstherapeuten. Dieser sollte eine Kompetenz besitzen, die der Ausbildung der MPU-Gutachter entspricht – bildlich gesagt, schaut er auf den Einzelfall mit der Brille eines MPU-Gutachters. Das kann zum Beispiel im Rahmen einer MPU-Simulation stattfinden, welche die individuellen Empfehlungen in einem ausführlichen Beratungsprotokoll mitteilt.
Entscheidet die Behörde über die Abstinenz?
In der Regel nicht.
Es kommt selten vor, dass ein Abstinenzbeleg als Auflage der Fahrerlaubnisbehörde oder des Gerichts angeordnet wird. Im Normalfall wird behördlich nur die MPU angeordnet und es liegt in der Verantwortung der Betroffenen, sich zu informieren, welche Voraussetzungen im Einzelfall für eine positive MPU bestehen.
Ich bin jetzt noch verwirrter als vorher…
Das verstehen wir. Wir finden das Thema selbst kompliziert, und es ist gar nicht so einfach, alle Wenns und Abers hier verständlich zu erläutern. Jeder Einzelfall ist unterschiedlich und die Anwendung der Kriterien muss immer individuell erfolgen. Im Rahmen dieses Blogbeitrags können wir nur allgemeine Informationen vermitteln. Es wird deutlich einfacher, wenn wir uns mit deinem konkreten Fall beschäftigen können. Deswegen gehört aus unserer Sicht die Abstinenzentscheidung in ein persönliches Gespräch. Wir werden dir ein paar fachliche Fragen stellen (in komplizierten Fällen vielleicht auch ein paar mehr…) und dann erläutern wir dir, welche Wege die MPU-Beurteilungskriterien für deine Fallkonstellation vorgesehen haben. Und natürlich darfst auch du uns alle deine Fragen stellen. Die Hypothese-Bildung kann nicht zwischen Tür und Angel erfolgen, deswegen nehmen wir uns ausreichend Zeit für die Einordnung deiner Fallgeschichte. Mit dieser Transparenz kannst du deine Entscheidung dann auf guter Grundlage treffen.
Wir freuen uns darauf, dich kennenzulernen.